Angriff auf Bündnis-Mitglied durch „Querdenker“ am 12.12.2020

Am vergangenen Samstag wurde eines unserer Bündnismitglieder von Teilnehmenden der Veranstaltung „Thüringen steht zusammen“ auf dem Erfurter Domplatz angegriffen.

Nachdem die Stadt Erfurt die „Thüringen steht zusammen“-Versammlung verboten hat, sind die „Querdenker“ gegen dieses Verbot vor Gericht gegangen und haben in allen Instanzen verloren. In der Zeit während des Rechtstreits wurde dennoch weiter mobilisiert – mit Hinweis auf mögliche Ersatzveranstaltungen, die juristischen Verfahren und dass man doch die (abgesagte) Gegendemo sprengen könne¹. Den Aufrufen von u.A. „Querdenken 361“ und „Erfurt zeigt Gesicht“ folgten unserer Einschätzung nach ca. 550 Personen. Doch Eins nach dem Anderen:

Um 15:30 Uhr startete auf dem Erfurter Anger eine Gegenkundgebung des Freien Kollektivs Kaffeetrichter. Statt die Kundgebung für alle offen zu lassen, wurde sie nachdem das Verbot der „Thüringen steht zusammen“-Veranstaltung in der Öffentlichkeit bekannt wurde, abgesagt. Man wollte die Kundgebung unter diesen Umständen lieber mit möglichst wenig Menschen durchführen.
Mit minimalen Komplikationen, wie einer Anzeige wegen Volksverhetzung aufgrund des Kritisierens des Antisemitismus in den Reihen der „Querdenken“-Bewegung in Erfurt, klappte das auch: Das Aufstellen der Kerzen (Anzahl COVID-19-Opfer in Thüringen), Vortragen der Redebeiträge, Aufspannen der Banner und der Live Stream verliefen ohne nennenswerte Probleme.

Eine Journalistin – Teil unseres Bündnisses – und ihre Begleitung gingen nach dem Anfertigen von einigen Aufnahmen und Interviews der Gegenprotestierenden zum Domplatz. Wir haben schon am Anger festgestellt, dass sich uns schon bekannte Faschos in der Stadt rumtrieben und dass auffallend viele Verschwörungsschwurbler auch tatsächlich ihren Weg in die Erfurter Innenstadt gefunden haben.

Inzwischen haben sich ca. 250 Menschen auf dem Domplatz versammelt und die Polizei hat die Versammlung wiederholt via Lautsprecher für Aufgelöst erklärt und die Teilnehmenden dazu aufgefordert, den Domplatz zu verlassen. Stattdessen erhöhte sich die Anzahl der Demonstrierenden aber weiter und in den vorderen Reihen der Versammlung waren auch vermehrt Neonazi-Akteure, genau wie der Ex-Anmelder von „Querdenken 361“, Arno N., vorzufinden.

Als unser Bündnismitglied am Domplatz eintraf, war die Polizei ihrer Aussage zufolge gerade dabei, die Marktstraße zu sperren. Eine wichtige Information, denn offenkundig wollten Faschos und Esos gemeinsam in Richtung des Gegenprotestes ziehen.

Erwartete Route von „Thüringen steht zusammen“. Karte via OpenStreetMap.


Um genau zu sein, antizipierten wir diese Route, basierend auf den „Spaziergängen“ von „Widerstand2020Thüringen“ im Mai- damals noch unter Organisator Enrico K.

Unter Parolen wie „Frieden, Freiheit, Demokratie“ & „Wir sind das Volk“ gab es mehrere Durchbruchversuche und auch die Stimmung war sehr aufgeladen. Ein Auslöser für einen weiteren Durchbruchversuch war die Ansage, dass die Polizei nun auch erkennungsdienstliche Maßnahmen durchführen würde. Während ein kleiner Teil der Versammlung nun auch tatsächlich zurück auf den Domplatz ging, konnte die Polizei aber glücklicherweise – wenn auch zweifelhaft brutal – den Rest am Durchbruch hindern. Dazu aber später mehr.

Aufenthaltsort der Journalistin während des Übergriffs. Karte via OpenStreetMap.

Um die Durchbruchversuche in der Marktstraße zu dokumentieren, begab sich besagte Journalistin in die Nähe. Genauer: Hinter eine Polizeikette vorm „Wirtshaus am Dom“, was auch aufgrund ihres bundeseinheitlichen Presseausweises ohne Probleme klappte. Sie sah, wie Arno N. heftig die Polizeieinheiten in der Marktstraße beschimpfte und wollte gerade ihre Videoausrüstung zusammensetzen, als plötzlich erst wenige, später etwa 50 Leute begannen, die Polizeikette vor ihr zu durchbrechen. Ein ca. 1,75m großer und rund 150kg schwerer Mann aus dieser Gruppe, der ihr zuvor noch in die Augen blickte, stieß sie daraufhin an die Betonwand, wobei ihr linker Ellenbogen geprellt wurde. Da sie sich in Richtung des von der Marktstraße aus ersten Fensters des „Wirtshaus am Dom“ abstützen konnte, ist ihrem Kopf nichts weiter passiert. Das hätte auch anders ausgehen können. Ihre Begleitperson hat mehrere Hiebe in die Seite, auf Höhe der Nieren, abbekommen. Aber auch hier erwarten wir keine längerfristigen Schäden.

Die Polizei räumte den Bereich unter Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray wieder frei und etwa 20m weiter in Richtung „Lange Brücke“, auf Höhe des „Trainingshauses“, wurde auch der Pulk an Leuten von der Polizei gestoppt und eingekesselt. Zur Versorgung der verletzten Demoteinehmer*innen und der Journalistin wurden insgesamt drei Rettungswagen aus dem Helios-Klinikum Erfurt gerufen. Der Zweite war für die Journalistin und ihre Begleitperson.

Eine Versammlungsteilnehmerin rief noch: „Das war Polizeigewalt“, als sie versorgt wurden, was die beiden natürlich widersprachen.

Zum Zeitpunkt des besagten Durchbruchs setzte ein Twitter-User diesen Tweet hier ab, weshalb wir uns schnellstmöglich über den Stand der Journalistin in Kenntnis setzen ließen. Nachdem wir sie erreichen konnten, haben wir die Aussage auf dem Tweet auch via Twitter bestätigt.

Kurz darauf – gegen 17:10 Uhr – zog die Polizei den im Vorfeld durch das Freie Kollektiv Kaffeetrichter erbetenen und im Kooperationsgespräch von Polizei & Versammlungsbehörde gleichermaßen zugesicherten Personenschutz im Form von sowieso schon lächerlichen zwei – in Zahlen 2 – BFE-Einheiten ab.

Der Wagen fuhr ohne Absprache in Richtung Domplatz, mutmaßlich zur Unterstützung der dortigen Einheiten, aber von nun an war keine Polizei mehr auf dem Anger. Wie das Freie Kollektiv Kaffeetrichter auf Twitter berichtet, haben die Anmelder*innen sogar noch via Notruf auf diesen Umstand hingewiesen und – das können wir bezeugen – trotzdem keine Unterstützung erhalten, obwohl sich uns (z.T. namentlich bekannte) Faschos in der Stadt rumtrieben und es immer wieder Sticheleien gegen Versammlungsteilnehmende gab.

Besonders perfide daran: Nach Beendigung der Gegenkundgebung kam eine Streife vorbei, kritisierte das eingesetzte Flatterband und vermutete eine unangemeldete Versammlung. Der Gegenprotest wurde wenige Minuten vor der Auflösung der Versammlung auf dem Domplatz beendet, damit alle sicher nachhause können. Das Hinterhertelefonieren der Streife dauerte ca. eine viertel Stunde und nun waren die Faschos erst recht in der ganzen Stadt unterwegs, weswegen es insbesondere einer gemeinsamen Abreise bedurfte.

Oder in anderen Worten: Die Kommunikation mit der Polizei war absoluter Müll.
Das unterstreicht auch die Vorab-Kommunikation unserer Journalistin mit den Einheiten: Während auf der letzten Kundgebung von „Thüringen steht zusammen“ die Polizei-Pressesprecherin noch sagte, dass wenn sie sich unwohl fühle, sie durch Vorab-Anmeldung auch Personenschutz erbitten könne, wurde ihr am Telefon mitgeteilt, dass das nicht nötig sei. Warum dieses Verhalten der Polizei sogar gefährlich ist, sehen wir ja jetzt ????

Und auch sonst war das Verhalten der Thüringer Polizei eher zweifelhaft. Statt die Anmelder*innen und mit Fackeln & Megaphon ausgestatteten Organisator*innen der Versammlung direkt des Domplatzes zu verweisen, hat man abgewartet, bis sich alle Leute erst um sie herum versammelt haben. Statt die Wege zur Innenstadt mit Polizeiwagen, die zu mehreren Dutzend sowieso am Domplatz standen, abzusperren, hat man das erst später und auch nur in der Marktstraße gemacht. Von der Möglichkeit der Nutzung eines Wasserwerfers zur Auflösung einer Menschenmenge als milderes Mittel im Vergleich zu Pfefferspray und Tonfa mal abgesehen. Auch wir sehen solch brutale Bilder wie vom letzten Samstag alles andere als gerne, wenngleich man sagen muss, dass die Gewalt in erster Linie nicht von der Polizei ausgeht.

Pressemitteilung der Polizei Thüringen

Die Frage nach einem Konzept stellt sich dennoch. Nun wurden der polizeilichen Pressemitteilung zufolge 300 Versammlungsteilnehmende Erkennungsdienstlich (EDM-) behandelt und bekamen ihrer eigenen Aussage zufolge einen Platzverweis für angeblich ganz Erfurt. Auch das ist problematisch: 300 juristische Verfahren sind einfach nicht stemmbar und werden deswegen sehr wahrscheinlich im Sande verlaufen. Außerdem ist ein Platzverweis für eine ganze Stadt schlichtweg nicht verhältnismäßig und damit potentiell juristisch anfechtbar. Hier hätten wir uns ein Vorgehen wie schon zuvor gegen „Widerstand2020Thueringen“ gewünscht, als die Platzverweise nur für die Altstadt- bzw. Innenstadt galten.

Dennoch nehmen wir wohlwollend zur Kenntnis, dass die Stadt die Gefahr, die durch die selbsternannten „Querdenker*innen“ in Erfurt ausgeht, deutlich ernster nimmt.

Für Presseanfragen zu Verifizierungszwecken steht die Betroffene gerne zur Verfügung. Hierzu bitte eine Mail an plaetzef@riseup.net | PGP schicken.

 

¹ Quelle ist die interne Telegram-Chatgruppe der „Querdenker“, die wir aber nicht verlinken werden, da wir keine Werbung für Faschoaktivitäten machen wollen.

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